Entstellung des Gesichts. Eine Verirrung
»Überhaupt einem Menschen, und dann auch noch ihr, den Kopf vom Hals zu trennen – ich schäme mich, so zu denken. Aber vielleicht wird es mein Leben verändern, auf eine völlig andere Fährte bringen, wer weiß, ich spür’s noch nicht. Der Gedanke allein, einen anderen und dazu noch um alles in der Welt geliebten, vielleicht für alle Zeit hin einzig geliebten Menschen töten zu wollen – und dazu noch mit einem Kopfschuss –, ist weder erklär- noch entschuldbar. Aber es ist nun einmal so.«
Das Leben des Protagonisten in meinem neustem Werk spitzt sich zu. Nach dem Tod des Vaters nimmt er einen neuen Job in einem wissenschaftlichen Verlag an; dabei verliebt er sich in seine Kollegin. Doch was nach einem verheißungsvollen Neuanfang aussieht, entpuppt sich als Illusion: Vergangenheit und Traumata des Namenlosen schwappen an die Oberfläche – und damit auch der Gedanke, dass die wichtigste Person seines Lebens, die Mutter, bald sterben könnte. Gefangen in dieser Angst, treibt es ihn ins vermeintlich Unausweichliche.
Erscheint am 26. Februar 2025
Premiere auf der Stuttgarter Buchmesse

AUSGEZEICHNET bewertet
Basierend auf 3 BewertungenVerifiziert Grandios! Ein grandioser, v.a. sprachlich sehr besonderer Roman; wer Thomas Bernhard oder Beckett mag, aber auch Roman Ehrlich, Boris Hoge-Benteler oder Jan Wilms "Winterjahrbuch", der wird an der "Entstellung des Gesichts" seine Freude haben. Starkfried6 April 2025Verifiziert LASS ES NICHT AUFHÖREN!!! Schnell bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es dem Buch nicht gerecht und damit womöglich „entstellt“ wird, wenn ich es geisteswissenschaftlich oder systemanalytisch erörtere. Dennoch bin ich mir sicher, dass es eine erkleckliche Anzahl von Kritikern geben wird, die das machen werden.Ich selbst jedoch habe meine ganzen Sinne auf seine außergewöhnliche, herrlich erfrischende, in seiner Wortgewandtheit unübertroffene Sprache und Erzählkunst gelegt, die vor Urzeiten vielleicht einmal die großen Geschichtenerzähler auf den Marktplätzen beherrschten … Man lässt sich einfach von Episode zu Episode treiben, macht die Gedankensprünge genussvoll mit und denkt immer nur das Eine: LASS ES NICHT AUFHÖREN!!!So wie Untertöne in der Musik hörbar mitschwingen und ihre Frequenzen in Brüchen entstehen, treibt der Leser auf ihnen davon er/sie wird eins mit dem Buch. Mit feinem Gespür erkennt man wohl die Netze, die der Autor spann, indem er plötzlich dem Protagonisten oder einer Nebenfigur seine ureigenen Gedanken in den Mund legt, um sie an anderer Stelle wieder neu zu spinnen. In das feine Spinnennetz der Dystopie werden Fäden zerschnitten (man könnte auch sagen: dekonstruiert) und Löcher gerissen, die einen zu der Frage verführen, ob man den ein oder anderen Satz schon mal gelesen oder ihn nur gedacht hat. Plötzlich ist man mittendrin in der Geschichte, eine (fast) eigene Figur … van Hengels subversive Vorgehensweise schnappt in poetischen als auch unerbittlich harten Tönen leise zu – und man will der autobiographisch anmutenden Geschichte nicht mehr entfliehen.Willi van Hengel schreibt so intensiv, dass ich aufpassen musste, den Protagonisten nicht mit dem Autor zu verwechseln. Denn wie kommt man auf die Idee, seine eigene Mutter „aus reiner Liebe“ mit einem Kopfschuss umzubringen. Seine Angst, sie als seinen absoluten Halt im Leben für immer verlieren zu können, wird obsessiv, sodass er nur den Ausweg sieht, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.Überhaupt könnte man durchaus manche Passagen des Romans separieren und als „Wunderblöcke“ (der Name für seine lyrischen Prosaminiaturen) einzeln stehen lassen, dachte ich während des Lesens. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass mich seine außergewöhnliche Art zu schreiben, so in den Bann zieht, dass der Inhalt fast zweitrangig wird – das Zeichen seines ureigenen Stils.Egal, es werden die Meinungen noch weit auseinandergehen, wie Beate Ruben letztens in ihrer Rezension schmunzelnd schrieb. Ich jedenfalls empfinde die „Entstellung des Gesichts“ als ganz große Literatur, habe sie genussvoll gelesen und kann sie nur jedem empfehlen, der Lust auf was Besonderes hat.Jette Möglich31 März 2025Verifiziert Eine Verirrung kann sich entwirren RezensionEntstellung des Gesichts - von Willi van HengelDa ist dieser aufreizende Titel: „Entstellung des Gesichts“. Sofort klingt das wie eine Provokation – wieso sollte jemand ein Gesicht entstellen?Ein Gesicht ist offenbar der Ausgangspunkt einer Sicht, einer Sicht auf die es umgebende Welt. Diese Sicht zu entstellen, meint eine Umkehrung eines Zustandes; da wird etwas vernichtet in einer Entstellung. Die Sicht auf die Welt wird vernichtet, es gibt nichts mehr nach außen hin zu betrachten, die Sicht kann nur noch nach innen gehen, ist das die Lösung?Mit dieser Frage plagt sich der Held.Im ersten Kapitel wird der Leser sogleich schockiert mit der Idee, dass der Held die Mutter töten müsse, nur so kann er sein eigenes Inneres befreien, nur so wird er der Liebe zur Mutter gerecht. Doch ist das Gesichtsfeld der Mutter zerstört, ist auch deren Lebenserfahrung aus der Welt geräumt. Was ist, wenn er all das zerstört? Immerhin zeichnet das Gesichtsfeld der Mutter das häusliche Sein der Familie, was den Zugang des Helden zur Welt definierte.Die Entdeckung, dass die Farce des häuslichen Seins nicht nur brutal, sondern auch eine glatte Lüge gewesen ist, macht die Frage zusätzlich kompliziert. Verrat, Feigheit und Gewalt wurden vom Vater in die Familie gebracht, die Mutter duldete aus der Idee heraus, dass der Mann nichts dafürkonnte. Eine einzige Trugwelt, dieses Sichtfeld seiner Mutter. Das Leben der Mutter scheint in eine winzige Nische gezwungen, und das Leben des Sohnes in ein großes Fragezeichen verwandelt.Im Roman wird das katastrophale Überleben einer Nachkriegsfamilie aufgeblättert, wo geschwiegen, erduldet und Schlager und Schokolade als Trost gegen die Unwirklichkeit der Welt konsumiert werden. Die Familie ist nicht der Ort, wo das Leben wieder und wieder geboren wird; es ist ein Ort des Schweigens und frustrierten Konsums und einer Unfähigkeit zur Liebessprache.Und doch: Es gibt den Großvater – dieser einzig menschliche Geist in der Familie, der irgendwie wie ein Außerirdischer wirkt im Roman. (So wie uns heute die klassische deutsche Literatur außerirdisch erscheint.) Beim Lesen fühlte ich mich beruhigt, dass es diesen Geist gibt – die Einsicht in die Kraft der Worte, die die Lüge bloßstellen können. Vernunft und Liebe können sich also paaren, das ist die Hoffnung, die der Roman ausspricht. Dafür ist es allerdings nötig, Lügengespinste, süßliche Schlagerwelten und das fatale ‚Nichts-dafür-können‘ zu attackieren.Willi van Hengel sagt das alles wieder einmal in seiner wunderbaren schöpferischen und poetischen Sprache, die manchmal dazu führt, dass einem der Mund offensteht vor Staunen.Beate Ruben Beate Ruben28 März 2025